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Die große geoökonomische Zeitenwende

Alexander Rahr • Okt. 30, 2022

Rohstoff-Weltkrieg

Der CDU-Politiker und Vordenker Matthias Zimmer hat den Ukraine-Krieg in zwei idealtypische Denkschulen unterteilt und darauf hingewiesen, dass aus den beiden Denkschulen unterschiedliche Strategien folgen. In der öffentlichen Debatte stehen sie sich unversöhnlich gegenüber. Die erste Argumentationslinie ist dem Leitbild einer regelbasierten Ordnung (Werteordnung) zugeordnet. Sie sagt: Russland ist ein imperiales Land. Die Ukraine ist nur das erste Opfer, weitere werden folgen – etwa Moldawien oder das Baltikum. Es sei sogar zu befürchten, dass Putin ganz Europa (von Wladiwostok bis zum Atlantik) unter seine Gewalt bringen will. Deswegen verteidige die Ukraine nicht nur sich selbst, sondern auch Europa insgesamt. Putin greife das westliche freiheitliche Wertesystem an, indem er den Westen als degeneriert bezeichnet und ihm national-konservative Werte entgegenstellt. Deswegen müsse der Westen Putin und seinen Ambitionen Einhalt gebieten, indem die Ukraine auch mit schweren Waffen ausgerüstet wird.


Die zweite Denkschule lautet: Russland verhalte sich wie eine traditionelle Großmacht, die ihre Interessen schützt und um ihre Einfluss-Sphäre kämpft. Gerade in der Ukraine habe der Zerfall der Sowjetunion ungelöste territoriale Probleme hinterlassen, die sich nicht auf diplomatischem Weg hatten lösen lassen. Hinzu kam der Wunsch der Ukraine, Mitglied der NATO zu werden. Dies habe in Russland dazu geführt, das Problem nun militärisch anzugehen. Die westliche Werte-orientierte Politik sei für Russland nichts anderes als eine feindliche Kolonialpolitik. Frieden entstehe erst dann, wenn die legitimen Sicherheitsinteressen und die territorialen Interessen Russlands ausreichend berücksichtigt sind.

Die Gegenüberstellung veranschaulicht, wie unterschiedlich die Genese des Krieges interpretiert wird. Tatsache ist, dass der Westen und Russland sich in einem dauerhaften ideologischen und geopolitischen Konflikt befinden, der wahrscheinlich nur durch den Sieg der einen über die andere Seite gelöst werden kann.


Laut der ersten Argumentationslinie hat Putin den Westen durch ein Täuschungsmanöver hinters Licht geführt. Er spielte russischen Kooperationswillen, bis hin zu einem möglichen NATO-Beitritt Russlands vor, erwirkte durch die Energiepartnerschaft mit dem Westen die notwendige Abhängigkeit der Europäer von russischen Rohstoffen – und er tat es, um den Westen zu beschwichtigen, zu schwächen und um letztlich Russlands Großmacht-Ambitionen zu verwirklichen: Wenn nicht über Diplomatie, dann über Krieg. Die Wiedereroberung der Ukraine in die russische Einflusssphäre stellte für Russland eine geopolitische Begradigung nach der historischen Niederlage von 1991 dar. Der vor 30 Jahren kurz aufgeflammte Wunsch der russischen Gesellschaft nach Europäisierung, Demokratie und Freiheit wurde vom Streben nach Größe, Dominanz und staatlicher Ordnungsmacht abgelöst. Russland forderte seinen historischen Platz in Europa als Mitglied des „Konzerts der Mächte“ zurück. Der Westen beharrte auf einem europäischen Sicherheitssystem auf den Säulen der NATO und EU, was wiederum Moskau in seinem Selbstverständnis als Großmacht nicht akzeptieren konnte. Kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine legte Putin die Karten offen auf den Tisch: er forderte den Abzug der NATO aus Osteuropa und die dauerhafte Entmilitarisierung der Ukraine. Russland will jetzt die Integration der „Russischen Welt“ mit Gewalt erreichen. Dazu soll, nach der kalten Übernahme von Belarus, die Ukraine erobert werden.


Gemäß der zweiten Argumentationslinie trägt der Westen Mitschuld an der Eskalation des Konflikts. Der Westen behandelte Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht als ebenbürtigen Partner, negierte russische strategische Interessen, und umzingelte Russland mit der NATO-Osterweiterung. Und dies, obwohl Gorbatschow bei seinen Verhandlungen über die deutsche Einheit mündlich versprochen wurde, die NATO nicht auf das Gebiet des Warschauer Paktes auszudehnen.


Tatsache ist, dass die segensreiche Friedensepoche, welche der Westen fast drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges genießen konnte, Jahr für Jahr von neuen Konflikten überschattet wurde. Eine gemeinsame Friedensarchitektur, errichtet auf den Prinzipien der Pariser Charta (1990), erwies sich frühzeitig als Illusion. In den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg wurde die Welt Zeuge einer viel größeren Anzahl an Kriegen als in der Zeit 1945-90. Zuletzt scheiterte ein russischer Vorschlag, eine neue multipolare Friedensordnung auf dem Reißbrett durch Vermittlung der Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates zu kreieren. Nun ist das Fenster, das einst Peter der Grosse nach Europa geöffnet hatte, zugeschlagen. Statt einem gemeinsamen Raum von Lissabon bis Wladiwostok, wird die künftige europäische Architektur transatlantisch ausgerichtet sein: von Vancouver bis Donezk.


Geopolitische Auswirkungen

Der Krieg in der Ukraine wurde zum Katalysator für eine radikale Zeitenwende in der Geopolitik und der Geoökonomie. Selten hat die Weltpolitik, ausgelöst durch ein monumentales Ereignis, innerhalb solch kürzester Zeit so tiefgreifende Veränderungen erfahren. Der Erste Weltkrieg begann aufgrund von Serbien, der Zweite Weltkrieg wegen Polen – beginnt der Dritte Weltkrieg in der Ukraine? Nach einem Viertel des 21. Jahrhunderts ist klar, dass sich der Übergang von einer unipolaren westlich dominierten Weltordnung zu einer multipolaren nicht friedlich gestalten kann. Die nicht-westlichen Mächte kämpfen für eine multipolare Weltordnung, für den Westen ist das eine ernsthafte Bedrohung. Die Gegenstrategie des Westens ist der Kampf der Demokratien gegen die Diktaturen dieser Welt, ganz im Sinne des Postulats vom „Ende der Geschichte“: In der Welt könne es kein besseres System als den Liberalismus geben.


In dieser globalen Auseinandersetzung wird es keinen Gewinner geben. Der Westen bleibt ein geeinter, aber geschwächter Machtblock, vereint in der NATO, der EU und der Transatlantischen Gemeinschaft. Daneben entsteht ein zweiter Machtblock, sogenannte Eurasische Allianzen, getragen von autoritär regierten Mächten, wie China, Russland, Indien, Türkei, Iran und Nordkorea – die nach einer Vorherrschaft in Asien, Afrika, Eurasien und dem Nahen und Mittleren Osten streben werden. Die Weltpolitik steht vor einer längeren globalen Auseinandersetzung zwischen Werte-Ideologien und Systemen, vor dem Zerfall der Welt in unterschiedliche Wirtschafts-, Rechts- und Werte-Räume. Dieser Konflikt wird Jahrzehnte dauern.


Europa richtet seine künftige Sicherheitsarchitektur gegen Russland, China und weiterhin gegen den islamischen Extremismus aus. Der größte Flächenstaat der Erde – Russland – wird vom westlichen Kulturkreis und von westlichen Wirtschaftsmärkten abgeriegelt. Realistisch betrachtet wird das aber nicht gelingen, denn eine Abkapselung Russlands von der Welt kann zwar die G7 ins Auge fassen, doch die G20 wird sie verhindern. In Asien und der übrigen Welt ist Russland keinesfalls isoliert. Man kann sogar eine geopolitische Konstellation erkennen, wonach EU-Europa und die USA einem „Rest der Welt“ gegenüberstehen.


Ein russisch-chinesisches Militärbündnis bildet sich langsam gegen die NATO in Europa und gegen die von den USA und Großbritannien betriebenen militärischen Allianzen im Südostasiatischen Pazifikraum (AUKUS), heraus. China wird ein Bündnis mit Moskau brauchen, um sich militärisch gegen AUKUS zu behaupten. In Südostasien lauert die nächste Gefahr eines Dritten Weltkrieges.


Der neue Kalte Krieg wird kostspielig und viele Opfer erfordern, die im Westen bisher unvorstellbar waren. Unklar bleibt, wie die vom Wohlstand verwöhnten westlichen Gesellschaften auf diese einschneidenden Veränderungen reagieren und wie sich mittelfristig die politische Landschaft in Europa gestalten wird. Spaltet sich als Folge der Westen? Die russische und die chinesische Gesellschaft werden sich in den Wogen des Patriotismus leichter zurechtfinden. Die Tatsache, dass die russische Gesellschaft gegenwärtig auf eine Revision des Zusammenbruchs der Sowjetunion eingeschworen wird und eine überdimensionale nationalistische Identität einnimmt, lässt jegliche Aussicht auf eine Verständigung zwischen dem Westen und Russland schwinden. China hat in der jüngsten Geschichte unter der westlichen Kolonialisierung gelitten und drängt nun machtpolitisch auf Revanche und einen eigenen Einfluss in der Weltpolitik. Während Russland den Westen geopolitisch bedroht, stellt China für den Westen eine riesige geoökonomische Herausforderung dar.


Geoökonomische Auswirkungen

Der Westen beginnt erst spät, die geoökonomischen Folgen des neuen Weltkonflikts zu berechnen. Russlands Angriffskrieg hat Europa in eine dramatische Energiekrise gestürzt. Es explodieren nicht nur die Strom-, Gas- und Ölpreise, es steht die gesamte Versorgungssicherheit des Industriestandorts Europa auf dem Spiel. Die Inflation ist außer Kontrolle und die Rezension bedroht Millionen Arbeitsplätze. Denn ohne Gas und mit den höchsten Energiepreisen der Welt, dürften zentrale Wertschöpfungsketten reißen. Alsbald kommt es zum Schwur. Einerseits gerät die Weltpolitik in den ideologischen Systemwettbewerb: Demokratie versus autoritäre Staaten. Doch die Frage, wer in der Welt mächtiger wird – Staaten, die über Energie- und Rohstoffhandel herrschen, oder Staaten mit höher entwickeltem Modernisierungspotential – ist offen. In den vergangenen 500 Jahren fiel die Antwort eindeutig aus: niemand bezweifelte die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens. Die Sowjetunion war aufgrund eigener Misswirtschaft gezwungen, Weizen im Westen zu kaufen. Doch die globalen Spielregeln ändern sich. Möglicherweise hat Putin diesen Umstand früh erkannt und eiskalt ausgenutzt.


Die Welt geht dem Ende der Globalisierung entgegen, begleitet von bahnbrechenden Machtverschiebungen im Regelwerk von WTO, OECD, Weltbank, IWF, OSZE. Die Zukunft der UNO als Weltregierung und Hüterin des Völkerrechts steht auf dem Spiel, wenn zwischen den Hauptakteuren USA, China, Russland und der EU ein Kräftemessen ausbricht.


Die Weltwirtschaft steht vor einer dramatischen Regionalisierung. Die BRICS-Staaten – ein Verbund, in dem Russland und China dominieren – kontrollieren inzwischen 40% der Weltwirtschaft und haben zu den USA und der EU (ebenfalls knapp 40%) aufgeholt. Tatsächlich ist das gemeinsame BIP der G7 geringer als das der BRICS-Staaten. Die westliche Bevölkerung macht nur ein Siebtel der Weltbevölkerung aus, verglichen mit 41% in den BRICS. Die demographische Entwicklung in der Welt schwächt mehr den Westen. Der Wunsch der USA, unterstützt von der EU, Hegeminialmacht zu bleiben, dafür China und Russland einzuhegen, ist nicht mehr zu realisieren. Der nicht-westliche Teil der Welt fordert die Staaten der Goldenen Milliarde heraus. Der Krieg in der Ukraine wäre nur der Beginn dieser globalen Auseinandersetzung.


Regionalisierung lautet das Schlagwort der geoökonomischen Revolutionierung der Weltwirtschaft. Die dramatische Entflechtung Europas und Asiens wurde zwar schon in der Pandemiephase sichtbar, doch niemand dachte, dass sie sich so konfrontativ gestalten würde. Der bisherige friedliche Ordnungsrahmen, in dem Rohstoffproduzenten und Rohstoffkonsumenten zivilisiert miteinander umgegangen sind, gehört der Vergangenheit an. Der Besitz an Rohstoffvorräten, die Rohstoffabhängigkeiten und die Kontrolle über die technologische Förderung von Rohstoffen, sowie die Aufsicht über globale Rohstofftransportrouten – all dies wird zur entscheidenden Waffe in der neuen weltweiten Auseinandersetzung.


Die Kontrolle über die Rohstofftransitrouten dürfte zu der militärischen Herausforderung im 21. Jahrhundert werden. China und Russland haben sich strategisch gut positioniert. Russland hat in Europa und Asien eine Infrastruktur für den Gashandel geschaffen und wird in Zukunft die Haupttransportroute zwischen Europa und Asien – die zunehmend eisfreie Nordost-Passage – kontrollieren. Wenn der Westen nicht aufpasst, sind alle Handelswege zwischen Europa und Asien bald in chinesischer bzw. russischer Hand. In der multipolaren Welt wird der Westen seine Interessen nicht mehr mit den Mitteln von liberalen Werten und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen können, auch wenn die USA gerade dafür kämpfen wollen.


Man stelle sich vor, die beiden Rohstoffsupermächte Russland und China tun sich gegen den Westen zusammen. Oder, umgekehrt, die Technologiesupermächte USA und EU entledigen sich ein für alle Mal der ökonomischen Abhängigkeiten von Russland und China. Die Weltwirtschaft richtet sich auf einen gesplitteten Markt ein. Mit teuren Batterien aus dem Westen sowie Billigwaren aus Asien, wobei China davon am ehesten profitiert.


Tatsache ist, dass Europa strukturell abhängig von Rohstofflieferungen aus anderen Erdteilen bleibt. Insbesondere bei der Veredelung der Metalle kommt Europa nicht an China vorbei. 58% der Lithium- und 75% der globalen Kobaltproduktion kommen aus China. Einzelne Teile der Welt versuchen jetzt resilienter zu werden. Doch die wirtschaftlichen Abhängigkeiten des Westens von China sind nicht zu ersetzen. Von 30 Rohstoffen, die die EU-Kommission als kritisch (wirtschaftlich bedeutsam, hohes Beschaffungsrisiko) einstuft, ist China bei zwei Dritteln der größte Produzent. Europa muss in die eigene Rohstoffförderung investieren. Daran geht kein Weg vorbei. Doch einen zweiten Komplettbruch, wie mit Russland, kann sich der Westen gegenüber China nicht leisten. Das betrifft insbesondere Deutschland, denn das Volumen des deutschen Handels mit China übersteigt den Handel mit den Vereinigten Staaten. Was Russland anbetrifft, so hat Deutschland mit diesem östlichen Nachbarn einen deutlich höheren Handel als mit der Türkei, Japan, oder Indien. Grund genug, bei solchen Zahlen im Realismus zu verharren.


Die USA handeln: Die US-Regierung will der eigenen Industrie vorschreiben, Rohstoffe nur noch aus befreundeten Ländern zu beziehen. Eigentlich möchte die EU dies mit ihrem „Raw Material Act“ auch erreichen.


In der Not werden, wie zuvor in der Pandemiebekämpfung, alte Prinzipien über Bord geworfen. Die Europäer kehren zum Fracking-Verfahren bei der Erdgas- und Erdölversorgung zurück. Europa will alle notwendigen Seltenen Erden – koste es was es wolle – aus dem eigenen Boden fördern. Stimmen fordern eine Renaissance der Bergbauindustrie in Europa. Können die Menschen bald im Erzgebirge nicht mehr wandern, da überall Schächte aufgegraben werden? Die Veränderung der europäischen Landschaft durch den rasanten Anbau an Windkrafträdern löst seit Jahren Proteste in der örtlichen Bevölkerung aus. Und wenn es in Folge des Frackings zu Erdbeben kommt, wie in den Niederlanden geschehen? Gerichte werden den Minenanbau nach derzeitiger Rechtslage verhindern. Somit ist die Eigenförderung keine Option.


Zur nüchternen Feststellung gehört: Russland wird zwar, aufgrund der Sanktionen den ausbleibenden Technologieimport aus dem Westen mit einem eigenen Wohlstandsverlust teuer bezahlen. Doch den Westen wird der Wegfall von Rohstoffen sowie der Verlust von Exportmärkten für die eigenen Waren und der Verzicht auf Billigproduktion mitten ins Mark treffen. Die geoökonomischen Verwerfungen werden für alle Seiten schmerzhaft sein.


Die jahrzehntelang als erstrebenswerte empfundene Verflechtung „Tausch von Technologie gegen Rohstoffe“ ist passé. Russland und andere unter Sanktionen stehende Staaten wandeln sich zu autarken Selbstversorgern, weil sie nicht mehr an die benötigte Fördertechnik und das Investitionskapital aus dem Westen gelangen. Und umgekehrt, müssen sich die westlichen Staaten künftig die nötigen Rohstoffe in den USA oder bei West-freundlichen Rohstofflieferanten beschaffen, weil die bisherigen Produzenten sie als Druckmittel gegen westliche Sanktionen einsetzen. Die jahrzehntelang bestehenden Lieferketten, Absatzmärkte, Joint Venture: alles, was bis dato so einwandfrei funktioniert hat, verliert an strategischer Bedeutung. Die Weltwirtschaft gerät aus den Fugen.


Um Rohstoffe kommt es zu Kriegen. In Bezug auf das Erdöl war es in der jüngsten Geschichte schon immer der Fall. Bezeichnend ist der Krieg in der Ukraine. Sollte es Russland gelingen, die Ostukraine ganz zu erobern, würde Kiew zwei Drittel seiner Bodenschätze verlieren. Russland hat die Ukraine vom Schwarzen Meer abgeschnitten und kontrolliert mittlerweile rund 63% der ukrainischen Kohle, elf Prozent des Öls, 20% des Erdgases, 42% der Metalle und 33% der Seltenen Erden. Die Ostukraine ist eines der mineralienreichsten Gebiete in Europa. Neben den riesigen Kohlevorkommen gibt es dort Titan- und Eisenerzvorkommen, die zu den größten Reserven der Welt zählen. Dazu kommen Lithiumfelder und Gasvorkommen. Insgesamt hat Russland der Ukraine 80 Prozent ihrer exportfähigen Wirtschaftsleistung genommen.


Ein weiterer geoökonomischer Umbruch steht in der Weltfinanzwirtschaft an. Russland und China betreiben eine schleichende Demontage der weltweiten Dollar-Abhängigkeit. Die Schaffung eines alternativen Finanzsystems ist nur dann realistisch, wenn der gesamte Welthandel vom Kopf auf die Füße gestellt werden könnte. Die BRICS suchen sich dafür Verbündete unter den Schwellenländern, die bereit wären, sich mit den USA anzulegen.


Fairerweise für den Westen sei gesagt, dass Staaten wie Deutschland sich der Rohstoffabhängigkeit seit Langem bewusst sind und sie deshalb die Energiewende einleiteten. Das Embargo gegen russische Energieträger, kann jetzt ohne die Reanimierung von Kohle und Atomenergie nicht ausgeglichen werden. Der Atom- und Kohleausstieg wird in Europa vertagt – mit verheerenden Folgen für die weltweite Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Ein noch radikalerer Umstieg auf grüne Technologien, wie Solarenergie, Windkrafträder, Biomasse, Erdwärme, Wasserstoffe wird nicht funktionieren, weil für ihre Herstellung tonnenweise Rohstoffe benötigt werden – die in der nicht-liberalen Welt sehr schwer zu beschaffen sind. Ein Land wie Kanada, auf dem die europäischen Hoffnungen jetzt ruhen, ist nicht in der Lage, die Rohstofflieferungen aus Russland und China auszugleichen. Für die Herstellung von grünen Technologien werden westlichen Industrieländern auch weiterhin die notwendigen Mineralien, Seltenen Erden und Rohstoffe fehlen.


Politiker fordern eine Rückkehr zur Atomenergie. Dass der Krieg in der Ukraine die größten europäischen Atomkraftwerke in Tschernobyl und Saporozhje nicht verschont, zeigt die enorme Gefahr auf. Doch darüber hinaus existieren weitere Probleme. In Frankreich sind mehr als die Hälfte der Atomkraftwerke derzeit nicht am Netz, hauptsächlich wegen Wartungsarbeiten und wegen des niedrigen Wasserstands in den Flüssen, aus denen sie Kühlwasser entnehmen. Wegen der extremen Dürre im gesamten Alpenraum ist die Verfügbarkeit von Wasserkraftwerken außergewöhnlich gering.


Horrormeldungen kommen gerade wie unter einem Brennglas zusammen: Die USA und die EU sind von größeren Uranlieferungen aus Russland abhängig. Russlands Staatsunternehmen Rosatom dominiert den Weltmarkt. Rosatom ist der zweitgrößte Uranproduzent der Welt. Es verfügt über 15 Prozent an der globalen Förderung. Gemeinsam mit Kasachstan beherrscht Russland fast 40 Prozent des Weltmarktes. Bei der Herstellung von angereichertem Uran, das für den Betrieb von Atomkraftwerken benötigt wird, ist die Abhängigkeit noch größer: Über ein Drittel des weltweiten Bedarfs kommt aus Russland. Auch die noch laufenden deutschen AKW werden zum großen Teil damit betrieben. Die EU bezieht 20% des Urans aus Russland, weitere 19% kamen von Russlands Verbündetem Kasachstan.


Die Betreiber von Kernkraftwerken fordern daher die amerikanische Regierung auf, keinen Importstopp für russisches Uran zu verhängen. In den USA werden rund 20 Prozent des Stroms mit Uran aus Russland und seinen Verbündeten Kasachstan und Usbekistan erzeugt. Nur durch die günstige Einfuhr von Uran als Brennstoff für Kernkraftwerke können die Strompreise in den USA auf niedrigem Niveau gehalten werden.


Der französische Krieg in Mali ist eng mit der Rohstoffzufuhr für den Atomstaat Frankreich verbunden. In Mali lagern große Uranvorkommen. Dass Frankreich nun gerade von Russland aus diesem afrikanischen Staat verdrängt wird, ist ein weiteres Merkmal gegenwärtiger Rohstoffkriege.


Das ökologisch sauberere Erdgas wird künftig aus politischen Gründen nicht mehr als goldener Brücken-Energieträger beim Übergang von der fossilen Energiewirtschaft zu erneuerbaren Energien fungieren. Das russische Erdgas gewann seine dominante Stellung in der grünen Energiewende. Da Wind- und Solarenergie sehr flatterhaft sind, braucht man während der häufigen, langanhaltenden Dunkelflauten regelbare Kraftwerke als Lückenfüller. Die Kohle- und Atomkraftwerke wollte die Politik abschalten, also blieb den Erzeugern nur das Gas. Die unheilvolle Abhängigkeit vom russischen Erdgas ist also auch ein Kollateralschaden einer unbedacht organisierten Energiewende.


Produzenten und Konsumenten setzen Erdgas als Waffe ein. Amerika, das Russland dafür am lautesten kritisiert, tut es selbst, die EU auch. Die USA versuchen seit Jahren, den Europäern durch Androhung von Sanktionen den Gashandel mit Russland zu untersagen. Dabei wollen sie selbst zum Hauptversorger Europas mit Flüssiggas (LNG) werden. Nach der russischen Invasion in der Ukraine hat der Westen ein Embargo gegen russisches Öl und Kohle beschlossen und durch die Sperrung von Nord Stream II den russischen Gashandel sanktioniert. Die Ukraine und Polen haben wichtige Gazprom-Routen für Lieferungen nach Europa geschlossen – als Waffe gegen Russland. Und Moskau antwortete mit der Drosselung des Gasexports durch die Nord Stream I. Die Gefahr des Gasengpasses wurde in Deutschland zu spät erkannt. Deutschland wollte sich zunächst vom russischen Gasimport vollständig lösen. Berlin dachte, so die russische Wirtschaft zu beschädigen. Doch nach erfolgten Kalkulationen stellte Deutschland seine Abhängigkeit vom russischen Gas fest. Die deutsche Industrie würde ohne russische Gaslieferungen zusammenbrechen.


In der kommenden Energiekrise in Europa, ausgelöst durch Gasmangel und steigende Energiepreise, werden westliche Politiker die Schuld ausschließlich bei Russland suchen. Russland habe die Gasversorgung nach Europa gestoppt. In Wirklichkeit reagiert Russland mit der Drosselung von Gaslieferungen auf die Sanktionen des Westens und will erreichen, dass Deutschland die Sanktionen gegen die russische Energieförderung aufhebt.


Der Gaskonflikt nimmt immer größere Ausmaße an. Europa ringt um eine Alternative zu russischem Gas, ansonsten droht den Europäern die Kälte. Gleichzeitig kommt es in Bangladesch und Pakistan zu stundenlangen Stromausfällen. Auf behördliche Anordnung müssen die Geschäfte nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen werden, um Strom zu sparen. Der Grund für den Strommangel in den Entwicklungsländern liegt in Europa. Die europäische Nachfrage nach Flüssiggas auf See steigt sprunghaft an. Europa ist bereit, für jeden Tanker mit Flüssiggas jeden Weltmarktpreis zu überbieten. Weil die Asiaten nicht mithalten können, haben die EU-Staaten in den vergangenen Monaten die globalen LNG-Bestände aufgekauft. Europa saugt das gesamte LNG aus der Welt auf. In den betroffenen Ländern wächst der Unmut, in Asien gehen die Lichter aus.


Wegen des Krieges in der Ukraine gibt es weitere Probleme mit Dünger. Die weltweite Nahrungsmittelversorgung ist an einer empfindlichen Stelle getroffen: Vor allem in ärmeren Teilen der Welt wird Dünger noch knapper und zu teuer für die Bauern. In den Industriestaaten tragen exorbitant hohe Düngerpreise zur Teuerung bei Lebensmitteln bei. Es kommt zu Einbrüchen bei Agrarerträgen und Politiker fürchten als Folge soziale Unruhen. Seit 2020 haben sich im Gefolge der Energiepreise die Preise für Stickstoffdünger vervierfacht, für Phosphat und Kali verdreifacht. Russland spielt eine wichtige Rolle auf dem Weltmarkt als Lieferant von Stickstoff, Phosphat und Kali. Aus Erdgas wird bekanntlich Ammoniak hergestellt, das wiederum die wichtigste Zutat für die Herstellung von Stickstoffdünger ist. Der Handel über das Schwarze Meer, eine Hauptroute für Ammoniak-Exporte, ist wegen des Krieges blockiert. Wegen der exorbitanten Erdgaspreise, haben schon im vergangenen Jahr viele Düngerhersteller, wie die BASF, die Produktion gedrosselt. Sollten die Bauern noch weniger düngen, wird auch noch weniger geerntet werden. In den Ländern, in denen heute der Großteil der Weltbevölkerung lebt, droht eine Hungerkatastrophe.


Russland weiß, dass es über den Erdgashandel die Weltwirtschaft mitbestimmt. Moskau scheint Willens zu sein, seine Rohstoffdominanz mit aller Macht auszuspielen. Russland demonstriert dem Westen, dass es im Stande ist, durch Zurückhalten von Weizen und Getreide eine weltweite Nahrungsmittelkrise auszulösen, als dessen Folge eine weltweite Massenflucht provoziert werden könnte. Das wäre eine indirekte Antwort Russlands auf die drakonische Sanktionspolitik des Westens und den Versuch, Russland von der Weltwirtschaft abzuschneiden. Putin wird die Rohstoffschraube zweifellos auch in Zukunft einsetzen, um den Westen zu schwächen.

 

Sanktionen

Die interessante Frage lautet, ob angesichts der mit harten Bandagen geführten Rohstoffkriege, der Westen sich genötigt sehen könnte, Russlandsanktionen wieder aufzuheben. Die Politik wird zwar dagegen sein, aber Tatsache bleibt, dass die Sanktionen gegen Russland nicht zum Zusammenbruch der russischen Wirtschaft geführt haben, wohl aber zum Ende der Globalisierung. Die USA und die EU hatten alle Staaten der Erde in der Vergangenheit in die WTO gedrängt, ihnen Versprechungen über Freihandel gemacht. Und jetzt sind Staaten wie Russland und künftig China verwundbar geworden. Solche Sanktionen, die derzeit gegen Russland erlassen worden sind, sind als Waffe für die Zukunft verbraucht. Jeder Staat wird sich überlegen, ob er sich durch einen Eintritt in das globale Regelwerk so abhängig von Strafaktionen machen will. Trotzdem fragt die Neue Zürcher Zeitung: „Haben wir genug und die richtigen Sanktionen verhängt?“


Keine Frage, die westlichen Sanktionen schaden Russland. Nach Angaben der russischen Statistikbehörde ist das BIP des Landes nach Ausbruch des Krieges um 4% eingebrochen; erwartet wird ein Rückgang von 7%. Die russischen Steuereinnahmen aus Importen sind um 43,7% zurückgegangen, was ein klares Signal dafür gilt, dass die Parallel-Importe nicht funktionieren. Die russischen Lagerbestände sind mittlerweile nahezu aufgebraucht. Der Einfuhrstillstand würgt die Wirtschaft ab, auch weil Russland dreißig Jahre lang die eigene Industrieproduktion vernachlässigt hatte, im Glauben, sich auf billigere West-Importe immer verlassen zu können. Die Sanktionen des Westens zeigen also doch ihre Wirkung und Experten sehen voraus, dass Russlands Wirtschaft in die Mangelwirtschaft der 1990er Jahre zurückgeworfen wird.


Tatsache bleibt aber, dass am Ende sich die einstigen Partner alle selbst ruinieren. Russland verliert zwar seinen lukrativen westlichen Energieexportmarkt, doch die europäische Wirtschaft verliert an Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Die Rohstoff-Engpässe drohen systemrelevante Industriezweige zu vernichten.


Putin glaubt weiterhin, den Weltumbruch zum Vorteil Russlands nutzen zu können. Russland hat keine Furcht, mit Europa zu brechen und sich geoökonomisch nach Asien zurückzuziehen. Die Gefahr, in Asien zum Anhängsel und zur Tankstelle Asiens zu werden, hat Moskau nicht. Russlands Orientierung nach Asien, die einer De-Europäisierung gleichkommt, hat jedoch einen enormen Preis und könnte von einer anderen Führung im Kreml revidiert werden. Russland hat Milliarden in den europäischen Gasmarkt investiert. Es ist, trotz der heutigen Entwicklung, kaum vorstellbar, dass das weit verzweigte Rohrleitungsnetz zu einer Ruine verkommen wird.


Auch der Westen ist, entgegen vieler seiner Aussagen, nicht an einem Komplettbruch mit Russland interessiert. Den Gaseinkauf gestalten europäische Konzerne in Rubel, wie es die russische Regierung fordert, um den Rubel zu stärken. Der Westen wird auch den russischen Nahrungsmittelexport, so wie den Uranexport, von der Sanktionsliste nehmen. Vielleicht muss in Zeiten akuten Gasmangels in Europa die Gasleitung Nord Stream II doch noch in Betrieb genommen werden. Jedenfalls reift im Westen die Erkenntnis heran, dass Sanktionen dem eigenen Wohl niemals mehr schaden dürfen als dem Gegner. Zum heutigen Zeitpunkt hat das westliche Energieembargo den Geldfluss an Petrodollars nach Russland nicht gemindert. Im Gegenteil, der Preisanstieg durch die künstlich herbeigeführte Verknappung der fossilen Energieträger hat Russlands Staatskasse wieder gefüllt. Das Gegenteil von dem, was der Westen mit der Sanktionspolitik erreichen wollte.


Allerdings wird Russlands Rechnung, dass der Westen die Sanktionen schnell fallen lässt, nicht aufgehen. Russlands geoökonomische Vorteile gegenüber dem Westen sind kurzfristiger Natur. Europa ist, trotz seiner Schwächen, sehr resilient. Die EU kann es mit einer enormen Kraftanstrengung bis 2050 schaffen, sich ganz von fossilen Energiestoffen zu lösen und die eigenen Volkswirtschaften auf grüne Technologien umzustellen. Das auf reinen Rohstoffexport fixierte russische Wirtschaftsmodell ist der westlichen Marktwirtschaft letztlich unterlegen.

 

Fazit

Die geoökonomischen Krisen sind in ihren Konsequenzen schwer abzuschätzen. Die Welt aber wird Zeuge von bahnbrechenden geopolitischen Machtverschiebungen, wie wir sie 1815, 1919, 1945 und 1991 gesehen haben. Der Welt drohen permanente Konflikte, die entweder mit einem Sieg des demokratischen Westens gegen den Block der autoritären Staaten enden, oder in eine neue Machtverteilung in einer wirklich multipolaren Weltordnung münden.


Die alte Ordnung, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den europäischen und den Weltfrieden mehr oder weniger garantiert hatte, ist definitiv zu Ende. Die geoökonomischen Folgen des Weltumbruchs sind für alle Seiten vernichtend. Das Leben wird teurer, der westliche Wohlstand kann kaum wie bisher aufrecht zu erhalten werden. Statt Handelsverflechtungen kommt es zu einer Militarisierung in Europa und Asien. Die 100 Jahre alt werdende Politikerlegende Henry Kissinger prognostiziert einen möglichen Krieg der USA und des Westens mit China und Russland. Solange jede der konkurrierenden Seite vom eigenen Sieg und der Niederlage des Gegners überzeugt ist – und diesen Sieg als moralisch zwingend für sich erachtet –, werden Abrüstung und Entspannung nicht funktionieren.

 

(Prof. hon. Alexander Rahr, Historiker, Buchautor, u. a. Der 8. Mai. Geschichte eines Tages [2020]; Senior Research Fellow des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik.)


Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien in WeltTrends Nr. 193, November 2022

Alexandre Rahr
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zuerst veröffentlicht in: Ost/Magazin. Wissenschaftliche Beiträge des Ostinstituts Wismar, 29. Juli 2014
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zuerst veröffentlicht in: Ost/Magazin. Wissenschaftliche Beiträge des Ostinstituts Wismar, 29. Juli 2014
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